Tiere in Film und Fernsehen – Dramaturgie zwischen Klischee und Komplexität
Die Animal Storytelling Checklist als Tool für neue Narrative
von Dr. Julia Dordel und Dr. Judith Benz-Schwarzburg
Die Darstellung von Tieren in unseren Bildern und Geschichten ist wohl so alt wie das Erzählen selbst. Tiere in Film und Fernsehen dienen dazu, die Menschen, die mit ihnen in Verbindung stehen, zu charakterisieren. Oft sind sie entweder deren treue Begleiter oder bösartige Widersacher. Häufig werden sie auch als Symbole oder Metaphern eingesetzt. Selten werden sie als eigenständige Akteure mit einer eigenen Perspektive, komplexen Fähigkeiten und Bedürfnissen inszeniert. Und wenn, dann sind sie, wie in vielen Kinderfilmen, bis zur Unkenntlichkeit vermenschlicht und handeln, sprechen oder sind gekleidet wie wir. Da solche „anthropomorphen“ Tiere es dem Betrachter besonders leicht machen, sich mit dem Tier zu identifizieren, stellt sich umso dringlicher die Frage, welche Botschaften sie vermitteln. Die Identifikation erfolgt dann nämlich nicht nur mit dem Tier, sondern auch mit dem, was es erzählt. Vertritt es womöglich nicht seine eigenen, sondern vielmehr unsere menschlichen Ideen und Interessen? Etwa unseren Wunsch nach einem süßen, flauschigen Haustier, unsere Faszination für das exotische Wildtier, oder unser Interesse an der Konsumierung des Nutztiers? Dann würde das Tier, mit dem wir uns identifizieren, letztendlich mehr über uns – und über unsere Vorstellung einer Mensch-Tier-Differenz – erzählen als über sich selbst.
Die Animal Storytelling Checklist, die gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und Filmschaffenden entwickelt wurde, setzt genau hier an: Sie will dazu beitragen, dass Dramaturg*innen, Autor*innen und Produzent*innen bewusster mit der Darstellung von Tieren umgehen, indem sie ihre dramaturgische Funktion und die über das Tier vermittelten Botschaften hinterfragen und reflektieren. Denn jede narrative Entscheidung beeinflusst, wie das Publikum Tiere wahrnimmt – mit Konsequenzen, die weit über die Leinwand hinausreichen.
In klassischen Narrativen werden Tiere meist auf einige wenige dramaturgische Funktionen reduziert:
Das treue Begleittier: Von LASSIE über FLIPPER bis HACHIKO sind Tiere häufig die loyalen Gefährten des Menschen. Sie dienen dann vor allem dazu, die Handlung der menschlichen Hauptfiguren zu unterstützen oder zu verstärken und deren Probleme zu lösen. Gerade in Filmen für Kinder- und Jugendliche treten Tiere oft als Freunde auf, die dem schüchternen Kind zu mehr Mut verhelfen oder dem Außenseiter zu mehr Anerkennung (was etwa auch die Grundidee der beliebten und fürs Kino verfilmten Buchreihe DIE SCHULE DER MAGISCHEN TIERE ist). Damit wird oft wenig reflektiert, was das Tier selbst eigentlich ist und für sich selbst braucht. Zudem verstärken sich Erwartungshaltungen, dass das Tier „für uns da ist“ und auch „für uns da zu sein hat“.
Das wilde, unkontrollierbare Tier: In Filmen wie DER WEISSE HAI oder CUJO wird das Tier zur Bedrohung stilisiert, oft als Manifestation von Chaos oder als Sinnbild für das Unheimliche und Unbekannte. Besonders die Erzähltradition des Hais als Monster wurde, beginnend mit Spielbergs Bestseller-Verfilmung DER WEISSE HAI von 1975, zelebriert und wird seitdem auch filmisch weitergeschrieben mit Produktionen wie DEEP BLUE SEA oder THE REEF - SCHWIMM UM DEIN LEBEN (Schwanebeck Wieland (2015). Die schwimmende Killermaschine Hai verkörpert und schürt damit menschliche Urängste – was laut einer Studie von Aich & Weber aus dem Jahr 2023 den Weg für einen dringend benötigten Imagewandel dieser Tiere verstellt, die zudem zunehmend durch menschliche Einflüsse vom Aussterben bedroht sind.
Das komische Tier: In Animationsfilmen wie MADAGASCAR, ZOOTOPIA, PAW PATROL oder ICE AGE sind die (häufig stark anthropomorphen) Tiere oft humoristisch überzeichnet. Sie sagen witzige Dinge, tun witzige Dinge und haben skurrile Eigenarten. Problematisch wird das vor allem dann, wenn der eingesetzte Humor das Tier überdeckt, von ihm und seinen Interessen ablenkt, es klein macht oder sogar entwürdigt. Auf diese Weise eingesetzt kann Humor vor allem ein: die Überlegenheit des Menschen betonen.
Das symbolische Tier: Tiere stehen in Filmen oft für etwas ganz anderes als sich selbst. In AVATAR symbolisieren die tierischen Wesen beispielsweise den Einklang mit der Natur, während in HIS DARK MATERIALS – der Kino- und Serienadaption einer erfolgreichen Fantasy-Buchreihe – die „Dæmonen“ tierische Erweiterungen der menschlichen Seele sind und damit letztendlich wieder eine anthropozentrische, also eine auf den Menschen bezogene Geschichte erzählen.
Diese Kategorien bedienen oft Vorurteile und Stereotypen. Sie sind dramaturgisch effektiv, aber oft eindimensional. Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir Tiere anders erzählen?
Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass viele Tiere komplexe Emotionen und ein differenziertes Sozialverhalten besitzen (siehe Huber 2020; De Waal 2019; Benz-Schwarzburg 2012; Bekoff 2008): sie können zum Beispiel kluge Lösungen für Probleme entwickeln und handeln flexibel und nicht auf Instinkte reduziert. Sie lernen sozial, haben ein Gespür dafür, was andere wahrnehmen, kommunizieren komplex miteinander, haben ausgeklügelte Jagdstrategien, besitzen ein Kurzzeit- und bisweilen auch ein gutes Langzeitgedächtnis, sind fürsorglich und empathisch. Eine reflektierte Dramaturgie sollte darauf Bezug nehmen und daher prüfen:
Wird das Tier in seinem natürlichen Verhalten realistisch dargestellt?
Gibt es eine das Tier verzerrende Vermenschlichung, wird es also nicht in seinen eigenen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen dargestellt?
Inwieweit wird das Tier instrumentalisiert, um eine menschliche Geschichte zu erzählen?
Die Darstellung von Tieren in Medien beeinflusst, wie wir über sie denken und wie wir mit realen Tieren umgehen. Studien zeigen, dass Menschen, die Menschenaffen in Filmen in menschlichen Umgebungen sehen, weniger um ihren Schutz besorgt sind. Ebenso führt die Romantisierung von Wildtieren dazu, dass Menschen riskante Interaktionen mit ihnen suchen. Filme und Medien machen also generell auf bestimmte Tierarten aufmerksam, was aber nicht immer nur darin resultiert, dass Menschen sich für diese dann tiefergehend interessieren. Während nicht klar belegt ist, ob nach dem Release von FINDET NEMO tatsächlich mehr Menschen als zuvor einen Clownfisch für ihr Aquarium erwarben, sehen Tierschutzorganisationen wie der Welttierschutz und Pro Wildlife dennoch einen Zusammenhang zwischen bestimmten Heimtiertrends und beliebten Filmen, besonders im Falle von trendigen Hunderassen wie Dalmatinern in 101 DALMATINER, Möpsen in MEN IN BLACK und Chihuahuas in NATÜRLICH BLOND . Auch GAME OF THRONES soll nach deren Recherchen dazu beigetragen haben, dass plötzlich viele Huskies gekauft und auch wieder von überforderten Tierhaltern in Tierheimen abgegeben wurden (National Geographic). HARRY POTTER sorgte laut Wildtierstationen für einen rasanten Anstieg von illegal ausgesetzten Eulen in Großbritannien (Nijman & Nekaris 2017; BBC), und ZOOMANIA sorgte dafür, dass Kinder in China verstärkt einen Wüstenfuchs wollten (Los Angeles Times).
Positive Gegenentwürfe müssten sowohl die tatsächlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse von Tieren im Film darstellen als auch das Tier in seinen eigenen Interessen und seinem inhärenten Wert sichtbar machen: Das Tier ist an sich wertvoll und um seiner selbst willen schützenswert, es hat nicht nur einen instrumentellen Wert als Mittel zur Erreichung menschlicher Zwecke. Um das Tier an sich darzustellen muss ein Film dabei nicht notwendigerweise dokumentarisch werden, sondern kann auch narrativ-fiktiv erzählen. Auch Vermenschlichung und Humor können eingesetzt werden, um ein Tier seine eigene Geschichte erzählen zu lassen, ohne dass es dabei lächerlich gemacht oder auf seinen Unterhaltungswert für den menschlichen Betrachter reduziert wird. Ein Beispiel für eine gelungene Balance ist hier OKJA, ein südkoreanisch-amerikanisches Science-Fiction-Drama von Regisseur Bong Joon-ho, das ethische Fragen der Massentierhaltung in einer emotional berührenden Geschichte thematisiert. Der Film erzählt von einem fiktiven Tier, einem futuristischen Schweinewesen, das an bioethische Debatten um sogenannte „super-muscly pigs“ erinnert. Diese erfüllen den immer größeren Hunger des Menschen auf billiges Fleisch. Okjas Verhalten im Film orientiert sich an realen Tieren. Das Tier ist kognitiv und emotional begabt und steht in einer engen und empathischen Beziehung zu menschlichen Figuren. Diese liegt auch in einem gemeinsamen Interesse begründet, das glaubwürdig dem Tier zugeschrieben werden kann, nämlich dem Interesse daran, nicht als Ressource ausgebeutet zu werden. Der Film arbeitet, durchaus mit Humor, ein bioethisches Horrorszenarium heraus. Er entwirft eine Welt, in der nur an Gewinnmaximierung orientierte multinationale Konzerne das gentechnisch optimierte Tier (und vielleicht auch irgendwann einmal den Menschen?) als für komplett verwertbar ansehen. Okjas Interesse dieser Verwertung zu entgehen betont den Eigenwert des Tiers. Es wird im Film als richtig und wichtig dargestellt, ungeachtet des instrumentellen Werts den das gentechnische Manipulieren, die Zucht und die Schlachtung des Tiers für den Menschen haben mag.
Andere Filme bewegen sich auch auf das Tier zu, die Umsetzung bleibt aber bisweilen noch etwas zwiespältig. Die Buchverfilmung von WOODWALKERS hat etwa das Potenzial, das Tier-Mensch-Verhältnis auf neue Weise zu erzählen: Die Gestaltwandler-Protagonisten wechseln zwischen Tier- und Menschsein, was interessante Überscheidungen tierlicher und menschlicher Perspektiven ermöglicht. Solche Filme sollten am Ende aber immer daran gemessen werden, ob der tierliche Blick erhalten bleibt und inhaltlich eine gleichwertige Aufmerksamkeit wie der menschliche erfährt. Nur dann wird die Gestaltwandlung zu mehr als einem narrativen Stilmittel.
Die Animal Storytelling Checklist wurde als Erweiterung der Green Storytelling Checklist entwickelt, nachdem die an der Green Storytelling Checklist beteiligte MOIN Filmförderung darauf hinwies, dass Tiere kaum vertreten waren. Dabei wurde schnell deutlich, dass die Bedeutung von Tieren im Kontext des Klimawandels immens ist – insbesondere in Bezug auf Landwirtschaft, Massentierhaltung und ihre ökologischen Auswirkungen. Doch während der Recherche wurde ebenso klar, dass es nicht nur um Umwelt- und Klimafragen geht: Die Art und Weise, wie wir Tiere in Filmen erzählen, berührt auch tiefgehende ethische Fragestellungen.
Bei der Analyse des aktuellen Stands – sowohl in der Filmbranche als auch in der Wissenschaft – zeigte sich ein dringender Bedarf an einer reflektierten und differenzierten Darstellung von Tieren. In Zusammenarbeit mit Fachleuten aus den Bereichen Film, Wissenschaft, Ethik und Tierschutzorganisationen wie PETA wurde daher die separate Animal Storytelling Checklist entwickelt, um Filmschaffenden eine Orientierungshilfe zu bieten.
Die Checkliste ist in zwei Hauptkategorien unterteilt:
Tierethik – Hier geht es um Fragen der Vermenschlichung, Instrumentalisierung und ob Tiere in Geschichten als eigenständige Akteure mit eigenen Interessen dargestellt werden.
Artenschutz und Biodiversität – Diese Kategorie untersucht, wie bedrohte Tierarten, ihre Lebensräume und Praktiken wie Wildtierhandel, Jagd oder Tierhaltung in Medien behandelt werden.
Mit kurzen Ja/Nein-Fragen ermöglicht die Checkliste eine schnelle und effektive Überprüfung der Einbindung und Darstellung von Tieren. Ergänzt wird sie durch einen Anhang mit weiterführenden Reflexionsfragen, die eine tiefere Auseinandersetzung mit den Themen Tierethik, Tierschutz und Artenschutz ermöglichen.
Die Animal Storytelling Checklist hilft Autor*innen und Dramaturg*innen, bewusste Entscheidungen über die Darstellung von Tieren zu treffen. Sie stellt einfache Fragen wie:
Ist das Tier für die Geschichte essenziell oder austauschbar?
Wird sein Verhalten seiner natürlichen Lebensweise gerecht?
Wird es als eigenständiger Charakter mit eigenen Interessen gezeigt?
Welche impliziten Botschaften vermittelt die Geschichte über das Verhältnis von Mensch und Tier?
Die impliziten Botschaften können zu bestimmten Kontexten getroffen werden (z.B. Haltung, Zucht und Handel mit Tieren, Jagd auf Tiere oder Konsum von Tieren) oder bestimmte Bereiche abdecken (z.B. Umweltauswirkungen oder Bildung und Aufklärung). Der kurze Fragenkatalog der Checkliste, der zunächst nur grob in „Tierethik“ und „Artenschutz und Biodiversität“ unterteilt ist, wird deshalb ergänzt durch viele weiterführende Fragen in einem Anhang.
Die Checkliste ist kein starres Regelwerk, sondern eine Einladung zur Reflexion. Sie soll nicht die kreative Freiheit einschränken, sondern vielmehr inspirieren, neue narrative Möglichkeiten zu erkunden. Die Animal Storytelling Checklist ist ein Werkzeug, das dabei unterstützen soll, Tiere als vielschichtige Figuren und nicht nur als dramaturgisches Mittel zu betrachten. Denn letztlich erzählen wir nicht nur über Tiere – wir beeinflussen mit unseren Geschichten auch ihre und unsere Zukunft. Als Filmschaffende tragen wir eine besondere Verantwortung: Unsere Werke erreichen unter Umständen Millionen von Menschen und prägen auch deren Verständnis von unserem Umgang mit Natur und Tieren. Eine bewusste und verantwortungsvolle Erzählweise kann dazu beitragen, dass Tiere nicht nur Projektionsflächen menschlicher Emotionen und Konflikte sind, sondern als gleichwertige, denkende, handelnde und fühlende Wesen wahrgenommen werden. Dies eröffnet dramaturgisch spannende Perspektiven.
Die Autor*innen der „Animal Storytelling Checklist“ sind:
Dr. Julia Dordel (Drehbuchautorin, Produzentin Dorcon Film / Vorstand Film & Medienbüro Niedersachsen e.V.)
Dr. Judith Benz-Schwarzburg (Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien, Universität Wien, Medizinische Universität Wien)
Dr. Maike Sarah Reinerth (Film-/Medienwissenschaftlerin, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF)
Sabrina Engel (PETA Deutschland)
Judith Gridl (Autorin / Journalistin, Bayerischer Rundfunk)
Dr. Karsten Brensing (Meeresbiologe, Verhaltensforscher und Spiegel-Bestseller-Autor)
Die Animal Storytelling Checkliste ist hier zu finden.